"Nadelöhr für den Welthandel" Wie Russland, China und die EU um Georgien buhlen
15.09.2023, 16:28 Uhr Artikel anhören
Weil auch der Hafen von Batumi, das ist Georgiens zweitgrößte Stadt, nicht mehr groß genug ist, soll in einem kleinen Ort ein neuer gebaut werden.
(Foto: IMAGO/Pond5 Images)
Seit dem Krieg in der Ukraine werden neue Handelsrouten zwischen Europa und China immer wichtiger, um den Transit durch Russland zu umgehen. Ein kritisches Nadelöhr ist Georgien. Das Kaukasusland plant deshalb einen neuen Schwarzmeerhafen. Doch das Projekt birgt geopolitische Sprengkraft.
Luftkurort und Statusobjekt des Präsidenten, dann Kurzzeit-Partyhochburg, und jetzt Schauplatz geopolitischer Machtspiele: Das ist die Geschichte von Anaklia, einer kleinen Stadt an der georgischen Schwarzmeerküste. Nur einige Hundert Meter trennen den 1300-Einwohner-Ort von Abchasien, der abtrünnigen Region im Nordwesten Georgiens, die von Russland unterstützt wird.
Ex-Präsident Michail Saakaschwili hat Anaklia Anfang der Jahrtausendwende mit Geld überschüttet, um ihn zu einem beliebten Urlaubsziel und Kurort am Schwarzen Meer zu machen. Doch das Konzept ist nicht aufgegangen. Nachdem Saakaschwili 2013 die Macht verloren hatte, gab Georgiens neue Führung die Pläne auf.
Danach versuchte die Stadt, junge Schwarzmeer-Partygänger anzulocken. 2014 wurde das Kazantip hierhin verlegt, das größte Techno-Festival im postsowjetischen Raum. Auf der Krim konnte die jährlich ausgetragene Veranstaltung wegen der russischen Annexion nicht mehr bleiben. Der neue Standort an der georgischen Küste war jedoch kein Erfolg, Kazantip in Anaklia blieb eine einmalige Sache. Das Festival wurde seitdem gar nicht mehr veranstaltet.
Ex-Premier und Moskau agieren im Hintergrund
2016 gab es schließlich den nächsten Kurswechsel der Regierung. In Anaklia sollte ein großer Schwarzmeerhafen entstehen. 2,5 Milliarden Dollar plante Georgiens Regierung dafür ein, doch das Projekt wurde schnell wieder eingestampft. "Es steht der Vorwurf im Raum, dass dies durch politische Einflussnahme unterbunden wurde. Maßgebend durch die georgische Regierung und von Bidsina Iwanischwili und der Einflussnahme Russlands", berichtet Politikwissenschaftler Hannes Meissner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Meissner ist als Risikoanalyst vor allem im Postsowjetraum aktiv, berät unter anderem Unternehmen, die überlegen, in jene Märkte zu investieren. Georgien kennt er von vielen Besuchen genau, er hat gute Kontakte in das Land am Kaukasus und weiß von der besonderen Rolle Bidsina Iwanischwilis. Der Oligarch war von 2012 bis 2013 selbst Premierminister des kleinen Landes, bis heute ist er Strippenzieher der Regierungspartei "Georgischer Traum".
Den Zuschlag für den Tiefwasserhafen in Anaklia hatte 2016 eigentlich ein georgisch-amerikanisches Konsortium bekommen. Doch der Bau geriet schnell ins Stocken, weil gegen georgische Mitglieder des Konsortiums Anklage wegen Geldwäsche erhoben wurde und sich der amerikanische Investor daraufhin zurückzog. 2019 wurden die Hafen-Pläne vorerst gestoppt.
Heute ist Anaklia ein ruhiges Plätzchen. Nur ein paar Hotels, Restaurants und ein großer Aqua-Freizeitpark zeugen noch von den großen Plänen der Vergangenheit. Ansonsten sieht man viel Leerstand und halb fertige Bauprojekte.
Alternative zum Russland-Transit
Nachdem Russland vor anderthalb Jahren die Ukraine überfallen hat, holte die georgische Regierung die Ambitionen für Anaklia aber wieder aus der Schublade. Eine schlaue Strategie, weil sich durch den Krieg die Handelsrouten verändert haben. Der sogenannte "Mittlere Korridor" ist zu einer wichtigen Alternative geworden, um den Transit durch Russland zu umgehen. Die Handelsroute führt von Europa über das Schwarze Meer, Georgien, Aserbaidschan, das Kaspische Meer und Kasachstan nach China.
Eine Route, die Georgien zu einem wichtigen Player in der internationalen Handelspolitik machen und dem Land viel Geld bringen könnte.
Bislang konnte Georgien sein Potenzial nicht nutzen, auch wegen großer politischer Risiken für Investoren. "Das liegt vor allem am ungelösten Territorialkonflikt mit Russland um die abtrünnigen Regionen (Abchasien und Südossetien, Anm. d. Red.). 2008 hat Russland im August-Krieg das unmissverständliche Signal gesetzt, dass sie jederzeit die Regierung in Tiflis stürzen könnten. Für Investoren aus dem Westen ist das ein Albtraum", analysiert Meissner die Situation in Georgien.
Außerdem sei Georgien wegen rechtsstaatlicher Probleme und der Verletzung von Investitionsschutzgesetzen und Eigentumsrechten eine schwierige Adresse für Investitionen.
Georgische Häfen nicht tief genug
Die georgische Regierung will die Probleme mit dem Bau des neuen Hafens übertünchen. Anaklia soll zu einem wichtigen Drehkreuz im äußersten Osten Europas werden. Anaklia könne "Georgiens Rolle als wichtiges Transitland zwischen Europa und Asien revolutionieren", analysiert "Radio Free Europe" in einer Reportage über die Ambitionen des Landes. Bisher sei Georgien ein "Nadelöhr für den Welthandel".
Das liegt daran, dass die beiden bisherigen georgischen Schwarzmeerhäfen - Poti und Batumi - nicht tief genug sind für die größten Containerschiffe. Deshalb muss die Fracht seit Jahren an anderen Schwarzmeerhäfen in Istanbul oder im rumänischen Constanta aufwendig umgeladen werden.
Doch bis das Großprojekt in Anaklia realisiert wird, dauert es noch mehrere Jahre. Noch ist nicht einmal klar, wer den Bau des Hafens überhaupt finanzieren wird. Georgiens amtierender Premierminister Irakli Garibaschwili bezeichnet Anaklia als das "wichtigste und ehrgeizigste Projekt" seiner Regierung. Die Mehrheit der Anteile daran soll Tiflis behalten und Georgiens Rolle auf dem Weltmarkt stärken. Aber wer bekommt die restlichen 49 Prozent der Anteile?
"Russland hat Druck erhöht"
Erst seit Anfang des Jahres läuft das Ausschreibungsverfahren. Höchstwahrscheinlich haben sich auch chinesische Investoren beworben. China hat seit bereits 50 Millionen Dollar in die strategische Planung des Tiefwasserhafens investiert.
Aus geostrategischer Sicht ist die Debatte um den Hafenbau deshalb hochbrisant, weil Georgien potenzieller EU-Beitrittskandidat ist, die aktuelle Regierung aber die Nähe zu China sucht und sich in den vergangenen Jahren auch Russland angenähert hat - mit verdeckter Unterstützung von Ex-Regierungschef und Oligarch Bidsina Iwanischwili.
"Wir haben in Georgien folgende Situation: Die herrschende politische Elite nutzt die eigene Machtposition aus, um auf verdeckte Weise politische und wirtschaftliche Interessen zu verfolgen, die häufig nicht im Interesse der breiten Öffentlichkeit stehen", erklärt Experte Meissner im Podcast. "Im Rahmen dessen gibt es deutliche Anzeichen, dass Russland hier über das Iwanischwili-Netzwerk Druck ausübt."
Russland ist bewusst, dass der "Nördliche Korridor", die Transitroute durch Russland an globaler Bedeutung verliert. Deshalb versucht Moskau, seinen Einfluss außerhalb der eigenen Grenzen auszubauen. Der "Mittlere Korridor" spielt da eine wichtige Rolle. Seit dem Ukraine-Krieg habe Russland den Druck auf Georgien erhöht, berichtet Meissner. "Es gibt sehr starke Indizien dafür. Sei es das 'Agenten'-Gesetz, das zwar vorerst gescheitert ist, oder die Anklagen gegen die proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili, die nun einem Amtsenthebungsverfahren unterzogen wird."
Brüssel in Konkurrenz zu Peking
Denkbar, aber nicht sonderlich wahrscheinlich ist, dass auch die Europäische Union in den Wettbewerb um den Hafenstandort in Anaklia einsteigt. Derzeit würden die Angebote "mehrerer internationaler Unternehmen geprüft", sagte David Javakhadze, im georgischen Wirtschaftsministerium für das Hafenprojekt zuständig, bei "Radio Free Europe".
Immerhin gehört Georgien möglicherweise bald zur EU, seit vergangenem Jahr ist das Land potenzieller Beitrittskandidat.
Brüssel will mit der chinesischen Seidenstraßen-Initiative konkurrieren und eigene Infrastruktur-Projekte im Rahmen des Konzepts "Global Gateway" entgegensetzen. Die georgische Schwarzmeerküste spielt dabei eine große Rolle. Der Hafen von Poti - etwa 25 Kilometer südlich von Anaklia - wird vom niederländischen Unternehmen APM Terminals betrieben und ist derzeit der größte des Landes. Auch hier sollen künftig größere Schiffe einfahren können. Der Betreiber will die Kapazitäten in Poti verdoppeln.
"Wir befinden uns in einem außergewöhnlichen Moment des geopolitischen Risikos rund um das Schwarze Meer wegen der russischen Invasion", wird Romana Wlahutin, Gastwissenschaftlerin beim German Marshall Fund und ehemalige EU-Sonderbeauftragte für Konnektivität, von "Radio Free Europe" zitiert.
China, Russland, die EU - alle buhlen um Georgien, ein Land nicht größer als Bayern, das aber längst zum Schauplatz geopolitischer Machtkämpfe geworden ist.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de